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Hexen Memoiren

 

Eine Trilogie

 

Ja, eine zünftige Blocksbergnacht, so recht nach dem Geschmack unserer Hexen. In hastende Wolkenfetzen mischt der Mond sein fahles Licht, der Wind schüttelt die dunklen Wipfel der Fichten und läßt ihre Schatten durch die Lichtung springen, die Äste knarren und die Zweige flüstern. Zittriges Klagen von Käuzen ölt die Luft.

Hui wie sausen sie auf Zaunlatten und Besen daher: da- dort- 3 -- - - I 3 - wer will sie zählen?! Echte Hexen, jawohl! Wie die Haare im Winde flattern, wie die Hände den Pfahl umklammern, wie sie vor Lust jubeln und schreien, wie sie in der Luft schwebend und tanzend und rasend so alles vergessen, was sie dereinst erlitten, ehe sie ins Hexendasein erlöst wurden. Glückselige Hexen!

Oder wußtet ihr noch nicht, daß diese nächtlich sausenden Damen dermaleinst Mütter waren? Mütter, Stiefmütter, Pflegemütter, Schwiegermütter, Großmütter - was auch immer für Mütter, jedenfalls dermaleinst verdrängte, ertränkte, gehenkte, verbrannte, verglühte, zerstochene, gekochte oder sonst wie liquidierte Mütter. Das ist ihre Entschädigung, daß sie jetzt frei durch die Nacht huschen dürfen, frei von Sorgen, frei von Körpergewicht- die Waage bleibt echt auf Null, wenn sie nach reichlichem Mahl doch mal schnell kontrollieren wollen -, frei von brummigen Männern, frei von nörgelnden Kindern, frei von konkurrierenden Frauen, denn Hexen konkurrieren nicht miteinander. Frei von allem! Nur daß sie sich zwischendurch mal mit dem Teufel einlassen müssen- aber den gibt es ja zum Glück gar nicht! Und wenn sie doch mal einen wollen - so einen richtigen süßen Teufel-, dann können sie ihn herbeizaubern: heiß, haarig, herzig - ganz nach ihrem Geschmack. Schließlich sind sie ja Hexen. Das ist ein Leben!

Auf Zaunlatten fliegen strengt überhaupt nicht an, es macht Spaß. Wenn Hexen mal landen, dann nicht, weil sie müde sind, sondern weil Landen Spaß macht. Vor allem, wenn man mal ein bißchen plaudern will. Plaudern - nicht reden, klatschen oder tratschen, das haben diese Hexen nicht mehr nötig: nein, es geht bei ihnen nur um schwebendes Spielen in Erinnerung. Ein bißchen Mütternostalgie aus der Freude an gewesenen Schmerzen die die Gegenwart verschönt.

Da landen drei quietschfidele Hexen auf einer breiten Tanne, parken die Zaunlatten im Geäst und setzen sich in die Krone. «Damals hätte uns das gepiekt», sagte Irene. «Mir wäre schwindelig gewesen so hoch oben», meint Agathe, und Klementine ergänzt: «Ich hätte dieses Schwanken im Wind nie ausgehalten. Wenn i.ch an die Schiffsreise mit meinem Mann denke- was habe ich über der Reling gehangen . . .  Damals!»

«Schiffsreise mit deinem Mann», staunen die beiden anderen, «da hast du aber einen reichen und lieben Mann gehabt! »

«Reich schon, Geld war genug da. Was er mir mit sich selbst nicht bieten konnte, das bot er mir mit allerlei Luxus. ·> - «Immerhin, das war doch wenigstens was- oder?» - «Zuerst ja, aber dann . . . ziemlich bald eigentlich ...» - «...kam 'ne andre dazwischen, nicht wahr? »

Schneewittchens Mutter erzählt

<Wie man's nimmt. Ich war selbst mit schuld daran. Ich war sehr schön und wollte auch ein besonders schönes Kind haben: Haut zart und weiß wie Schnee, Lippen und Wangen rot wie Blut und Haar schwarz wie Ebenholz. Ich bekam's auch - aber ich hatte ja nicht gewußt ...» - «Was hattest du nicht gewußt?»

 

 

Schneewittchens Mutter erzählt

 

«Das war so: die ersten Jahre war ich die schönste Frau jedenfalls für meinen Mann. Er sagte es mir immer wieder mit Worten, mit Blicken: Du bist die schönste im ganzen Land! Er strahlte meine Schönheit wider. Das Spieglein an der Wand brauchte ich gar nicht- nur zur Kontrolle ab und zu.

Als Schneewittchen dann heranwuchs, sah mein Mann immer mehr sie, immer mehr sie und schließlich immer nur sie. Ich weiß noch, wie es mir durchs Herz ging, als er aussprach, was seine Augen lange schon verraten hatten: <Ist sie nicht eigentlich noch schöner als du?> - <Eigentlich> und <noch> hätte er sich sparen können. Es schien ihm wohl besser, einige Emotionsdämpfer einzubauen. Aber es saß, und es saß tief.

Das Spieglein an der Wand sagte mir: Du bist halt jetzt nicht mehr so schön. Schau: die Fältchen hier und die Fältchen da; das Haar fällt , ja noch gut, aber so voll und ganz so lang ist es auch nicht mehr.

Schneewittchens Haare hingegen wuchsen, ihr hübsches Gesicht bekam frauliche Züge, und dann noch ihre Figur . . .

Schiffsreisen machte mein Mann nur noch mit Schneewittchen. <Du wirst ja doch immer gleich seekrank>, schob er mich ab. Ich gönnte dem Kind ja alles, aber ich hatte den Eindruck, er verwöhnt die Göre zu sehr, die muß mal aus dem Haus, die muß mal arbeiten lernen, sonst wird nichts aus ihr. Aber mein Mann hielt sie noch für zu jung und zu zart:

Laß sie noch eine Zeit bei uns; sie wird uns noch früh genug verlassen. Das arme Geschöpf allein in fremder Welt>, jammerte er.

Als Schneewittchen unsere Meinungsverschiedenheit bemerkte, machte sie Front gegen mich. Mit ungeahnter Raffinesse spielte und trickste sie mich aus und litt vor den besorgten Augen ihres Vaters. Oh - wie sie vor ihm unter mir leiden konnte! So legte sie den Grundstein für das Märchen von dem braven Schneewittchen und ihrer bösen, mörderisch bösen Mutter.

Wenn sie mit mir allein war, warf sie mir die gemeinsten Dinge an den Kopf wenn ich mich wehrte und mir die häßlichen Reden verbat, bekam sie einen Erstickungsanfall und wurde ohnmächtig. Den günstigsten Zeitpunkt dazu hatte sie gut raus. Ich weiß bis heute nicht, wie sie das machte: sie brach meist zusammen, kurz bevor mein Mann dazukam. <Du bringst mir das Kind noch um>, fuhr er mich an, hob sein zartes Schneewittchen vom Teppich, trug es behutsam durch das Zimmer, legte es sacht und sanft aufs weiche Sofa und holte Fruchtsaft mit Cognac. Da kam sie wieder zu sich. Ihre großen blauen Augen hingen traurig an Vaters Blick.

Vater streichelte ihr Stirn und Haar.

Wenn sie dann zu mir blickte: ein einziger Triumph, höhnische Verachtung für ihre Mutter. Ich wandte mich ab - und sah im Spiegel, wie sie grinsend ihren Kopf über mich schüttelte.

Das Kind muß weg; schwor ich mir, sonst geh ich kaputt. Schneewittchen oder ich- eine muß weg.

Natürlich das Kind!» johlen die zwei anderen Hexen dazwischen. «Das Kind muß weg! Das Kind muß weg! Nieder mit Schneewittchen!» Da lachen alle drei. Sie lachen, was sie lachen können. Hexen können über alles lachen, was einmal war, auch wenn es noch so bitter war, eben weil es war und nicht mehr ist.

«Die mußte weg, erklärt Irene, als sie zu lachen aufhören, denn durch ihr Verhalten hat die dich ja zu einer solchen Hexe gemacht, wie man sie sich damals vorstellte. »

«Genau! Alles, was ich nun sagte und tat, wurde mir als böse ausgelegt. Ich gebe zu: ich habe sie außer Hauses gebracht, als mein Mann mal im Ausland war. Ich gab sie als Haushaltshilfe in den Knabenhort einer Bergwerksschule hinter dem Siebengebirge. Sie musste ja mal was lernen und sich bewähren. Schönsein allein genügt nicht!»

«Da hast du recht!» stimmten die beiden anderen zu. «Damals war es so - heute können wir's uns leisten, nur schön zu sein! Als Hexen brauchen wir nichts anderes als schön zu sein, schön und glücklich! »

«Dennoch hatte ich Kontakt mit ihr gehalten. Schließlich war sie ja mein Kind. Ich besuchte sie zuweilen und brachte ihr Kleidung, Toilettenartikel und was Schönes zu essen. Es war das alte Lied: solange sie mit mir allein war, sagte sie mir häßliche Worte, hörte sie dann die Knaben kommen, fiel sie in Ohnmacht. Wie ihr Vater haben mir auch diese unerfahrenen Jungen das als Mordversuche angekreidet. Und selbst zwergenhafte Verleumdungen können riesenhafte Folgen haben!

Schließlich hatte sie sich auch einen Liebhaber angelacht, der sich als Märchenprinz ausgab. Das Ganze kam mir gleich wie ein Komplott vor. Jedenfalls kam das Pärchen schon mit fertigem Gerichtsurteil zur Hochzeit nach Hause: Wegen mehrfachen Mordversuchs Tod in glühenden Schuhen. Ich tanzte nur einen Samba, dann war ich verglüht und - frei! »

«Frei», rufen die drei Hexen vor Freude, schnappen sich jede ihre Zaunlatte und sausen hinauf in die Wolken, über den Dächern des nächsten Dorfes ziehen sie einige großzügige Achten und landen wieder auf der Tanne.

«Du bist dran, Irene», sagt Agathe; «erzähl, wie sie dich zur Hexe gemacht haben! »

 

 

Rapunzels Pflegemutter erzählt

 

Mich», antwortet Irene, «mich haben sie schlicht vergessen, tot; geschwiegen, ins Nichts verflüssigt, durch Ignorieren liquidiert.>

«Pfui, das ist die gemeinste Art», meint Klementine.

«Dann lieber Backofen oder siedendes Öl>, ergänzt Agathe.

«Ja, die Vergessenen haben keine Sterbestunde, sie sterben Jahre», fährt Irene fort. «So war's bei mir. Den Grund dazu legte mein Vater schon in meiner Kindheit. Selbst ein großer Weiberheld in Jugendjahren, hatte er nun Angst um sein Irenchen. <Wenn dich die bösen Buben locken, folge ihnen nicht>, prägte er mir immer wieder ein. <So nett sie sich erst stellen- die Männer wollen immer nur dasselbe, immer nur eins, und sie wissen viele Weisen, dran zu kommen. Sie nutzen dich brutal aus, und dann lassen sie dich sitzen, ', schmeißen dich weg wie eine gebrauchte Serviette.>

So bekam ich Angst vor Buben und Männern und wurde diese Angst nie mehr los. Ich wurde überhaupt ziemlich menschenscheu. Als mein Vater starb, ließ ich mir von seinem Erbe eine hohe Mauer um mein Grundstück bauen. Sie schützte mich vor den Augen zudringlicher Männer und auch sonst vor den Leuten. Meine Einsamkeit belebte Zerberus, mein süßer Zwergpudel. Freilich kam ich bei den Leuten ins Gerede: <Frau Gothel ist eine Zauberin>, sagten sie, nur weil ich viele Kräuter in meinem Garten hatte und weil sie nicht viel von mir wußten.

Niemand kannte meinen Herzenswunsch. Ich wollte unbedingt, ein Kind. Trotz Zerberus - die Sehnsucht nach einem Kind war '' stark.

Ohne Zeugung wollte ich es haben- nie hätte ich einen Mann, zu mir gelassen, nie! Angst und Ekel waren viel zu groß.

Wie beneidete ich meine Nachbarin: sie erwartete ein Kind. Mit Stolz und Vorfreude schob sie ihren Bauch ziemlich demonstrativ vor sich her, wenn sie einkaufen ging.

Sie soll es gebären, und mir soll es gehören, schoß es mir durch den Kopf, wenn ich sie sah. Ich weiß nicht wie, aber irgendwie wurde mir das zur fixen Idee. Na ja- und sie sollte tatsächlich wahr werden.

Eines Abends kam Zerberus winselnd aus dem Garten ins Haus geschossen. Als ich hinausblickte, stand da der Nachbar in meinem Rapunzelbeet. Ich war von den Socken er rupfte ein paar Pflanzen aus und- husch, hievte er sich über die Mauer.

Nach einer durchwachten Nacht stand mein Plan fest. In der Dämmerung des nächsten Tages versteckte ich mich hinter dem dichten Wacholder am Beet. Ich wußte: wer einmal von meinen Rapunzeln gegessen hat, der will sie wiederhaben. Rapunzeln waren meine Spezialität. Jahrelang hatte ich sie herausgezüchtet: strotzend-grün, zart-hart, würzig.

Und richtig: er kam. Vorsichtig lugte sein Mondgesicht über die Mauer. Dann zog er sich hoch und ließ sich schnell an der Innenseite hinab. Einen Augenblick blieb er regungslos stehen und machte ein Gesicht, als hätte er Angst vor Zerberus. Dann stapfte er zum Rapunzelbeet. Diesmal hatte er sogar ein Körbchen mitgebracht. Als er hastig am Rupfen war, stellte ich mich leise neben ihn und räusperte mich. Schlagartig ging er in die Senkrechte und starrte mich an. Ohne ihn sich von seinem Schrecken erholen zu lassen, fuhr ich ihn an:

< Wie kannst du es wagen, in meinen Garten zu steigen und wie ein Dieb meine Rapunzeln zu stehlen? Das soll dir schlecht bekommen!>

Er hatte echte Angst. Ein Mann zitterte vor mir - könnt ihr euch vorstellen, wie mich das beglückte?! »Und wie! » rufen die beiden anderen begeistert und klopfen Irene auf die Schulter. «Erzähl nur weiter!

Ach>, .stammelte er und roch dabei nach Schweiß, <laßt Gnade vor Recht ergehen, ich habe mich nur aus Not dazu entschlossen: meine Frau, hat Eure Rapunzeln aus dem Fenster erblickt und ist so scharf drauf, daß sie sterben würde, wenn sie nicht davon zu essen bekäme. Einen Augenblick war ich richtig gerührt, einmal, weil mein Feldsalat so gut herauskam, zum anderen, weil der Mann seine Frau tatsächlich zu lieben schien. Ich handelte aber weiter, genau nach Plan. <Gut>, sagte ich, nimm dir Rapunzeln mit, soviel du magst unter einer Bedingung: das Kind von deiner Frau will ich haben, sobald es geboren ist. Wenn ich das Kind nicht bekomme, dann . . . >mir fiel keine Drohung ein. Das war auch nicht nötig. weil der Dummkopf mich für eine Zauberin hielt.

<Ihr sollt es haben>, stammelte er ängstlich, <wenn mir nur nichts passiert!>

Ein Mann - ein Wort>, sagte ich, ließ ihn sein Körbchen voll ~Rapunzeln sammeln und über die Mauer verschwinden.

In dieser Nacht brannte das Licht im Schlafzimmer meiner Nachbarin weit länger als sonst. Ich aber ging am nächsten Morgen einkaufen: Windeln, Strampelhöschen und Kinderkraftnahrung in Menge.

Als das Baby geboren war, machte ich kurzen Prozeß. Ich ging rüber, nannte das Kind Rapunzel und nahm es mit. Zu Hause sah ich nach und war beglückt: es war ein Mädchen - ganz wie ich es mir gewünscht hatte. Die schönsten Jahre meines Lebens begannen.

Endlich hatte ich jemanden, der mich brauchte, für den ich sorgen konnte, und das Kind dankte es mir mit großer Liebe. <Mamili, Mamili> - es war lange Zeit das einzige Wort, das Rapunzel sagen konnte. Natürlich ließ ich das Kind nie aus der Umfriedung von Haus und Garten hinaus, denn die Welt ist böse und gefährlich. Alles, was es brauchte, konnte ich beschaffen. Mein Kräutergarten war Rapunzels Paradies, war ihre große, weite Welt voller Freude und Sonnenschein. Lieb und brav glaubte sie mir alles, was ich ihr erzählte von den Bereichen jenseits der Mauer, und wie Zerberus gehorchte sie mir aufs Wort.

So lebten wir viele Jahre glücklich miteinander, bis sie plötzlich neugierig wurde und trotz meiner Verbote auf die Mauer kletterte und einmal sogar aus dem Haus auf die Straße lief. Darüber war ich sehr unglücklich. War das der Dank für meine aufopfernde Fürsorge?! Und wenn sie irgendeinem losen Buben in die Hände geriet, jetzt, da sie anfing, ein junges Mädchen zu werden; Haare hatte sie goldblond und lange. Wenn irgendwelche Männer die gesehen hätten...!

Weil ich sie vor Schändung schützen wollte und weil ich sie für mich erhalten wollte, brachte ich sie in einen Turm, der in einem abgelegenen Wald stand. Der Turm war massiv und enthielt nur hoch oben ein kleines Stübchen mit einem Fenster. Zu diesem Fenster führte eine uralte, morsche Leiter. Ich hieß Rapunzel an ihr nach oben zu steigen. Sie stieg auf, undjede Sprosse, die sie betreten hatte, zerbrach, sobald sie die nächste erreichte. So konnte ihr niemand folgen.

<Jetzt bist du sicher>, rief ich ihr zu. als sie oben war. <Jetzt kann dir niemand was tun!>

<Aber Mamili, hier muß ich ja verhungern und verdursten>, rief sie hinunter. <Ich werde dich doch nicht verhungern lassen, Liebes>, antwortete ich. ~Jederzeit, wenn ich will, komme ich zu dir hinauf und bring dir was. Du brauchst nur dein Haar einmal um den Fensterhaken zu schlingen und dann herabzulassen, dann kann ich daran hochklettern.

> Sie versuchte es gleich, und es klappte wunderbar. Was haben wir gelacht, als ich oben angekommen war. Mamili, du hast aber auch Ideen>, sagte Rapunzel, und ich glaube, '` sie war richtig stolz auf mich.

Ein paar Jahre ging alles gut. Täglich brachte ich Rapunzel allerlei Leckereien zu essen und vitaminreiche Säfte zu trinken. Es war so das Beste für uns. Sie ging mir nicht verloren, und sie freute sich riesig, wenn ich zu Besuch kam. Mein Besuch war immer der Höhepunkt in ihrem Ferien-Luftkurort Waldeshöhe, bis eines Tages alles aus war. Undank war der Welt Lohn.

Der Tag fing schon so traurig an: Zerberus lag tot vor dem Kamin. Ich bestattete ihn unter dem Wacholderstrauch neben dem Rapunzelbeet und überlegte, wie ich Rapunzel das tragische Ereignis möglichst schonend beibringen wollte. Dann packte ich Pfefferminzschokolade ein, die sie besonders gern mochte, und ging zu ihr.

Wie üblich rief ich unten am Turm:

<Rapunzel, Rapunzel - laß mir dein Haar herunter!

Sie ließ ihr Haar herunter, und ich kletterte zu ihr hoch. Die Begrüßung war sonderbar.

<Mamili, du kletterst ja viel langsamer als . ..> Sie hielt inne. Ich war tief erschrocken. Viel langsamer als wer?> forschte ich atemlos. Viel langsamer als sonst>, drehte sie ab. Sehr geschickt, muß ich im nachhinein zugeben.

Obwohl mir der Schrecken durch und durch gegangen war, versuchte ich mich wieder zu beruhigen. War ich nicht viel langsamer als sonst geklettert, weil ich ihr die Sache mit Zerberus beibringen mußte? Vielleicht hatte sie das gespürt; sie war ja immer so einfühlsam, meine Kleine.

<Du, ich hab dir heute deine Lieblings Schokolade mitgebracht>, begann ich.

<Schön, Mamili, schön>, antwortete sie etwas abwesend, wie ich fand.

<Pfefferminzschokolade. > Schön, Mamili.>

<Ja, weißt du, ich muß dir etwas sehr Trauriges erzählen: Unser süßer kleiner Zerberus, du Rapunzelchen, unser Zerberus - er ist tot. >

<Schade um ihn, Mutter; aber gönnen wir ihm seine Erlösung: er war doch schon sehr alt. >

Ich dachte, mich haut's um. Das war doch nicht mehr mehr meine Rapunzel. Keine Träne für Zerberus! Wir drei gehörten doch zusammen!

Ich gab Rapunzel die Pfefferminzschokolade und legte mich er schöpft auf ihr Strohlager. Ich brauchte erst mal Ruhe. Da spürte ich etwas Hartes unter meinem Kopf ich fühlte nach und ertastete eine geleerte Champagnerflasche. »

Mit gellendem Gelächter fliegen Agathe und Klementine in die Luft. Die hatte Geschmack, die Kleine», jubelt Klementine. Champagner - das ist doch was anderes als Pfefferminzschokolade! »

«Jetzt weiß ich das auch», ruft Irene ihr zu, «aber damals, damals da hab ich wohl fast alles falsch gemacht!

 

Doch alles, was mich dazu trieb,

war ach so gut, war ach so lieb! »

 

Die drei Hexen schütteln sich vor Lachen. «Erzähl weiter, Irene», drängt Agathe, «es ist gerade so spannend! » - «Ja, die Champagnerflasche verdichtete in einem Augenblick alle meine Ängste in einen schrecklichen Verdacht. <Die Flasche stammt nicht von mir, Rapunzel>, sagte ich streng, als ich mich einigermaßen gefaßt hatte. <Du mußt es ja wissen, Mutter>, antwortete sie.

<Von wem ist sie?

<Ach, Mutter, da kommt öfters wein Freund zu mir. Der ist auch so

lieb wie du, nur anders . . . > <Anders? Wie denn anders?>

<Weißt du, wir reden nicht gar so viel miteinander. Wir . . . naja, er ist sehr, sehr lieb zu mir. Ich war außer mir. <Rapunzel>, schrie ich sie an und schüttelte sie an den Schultern, <Rapunzel, gerade das wollte ich dir ersparen! Du Biest, du Schlange, du Hure! Du hast mich hintergangen, betrogen! Alles hast du kaputtgemacht!>

In meiner Wut griff ich nach der Schere und schnitt ihr die Haare ab. Ich knotete den Zopf am Fensterhaken fest. <Los, nun laß dich selbst an deinen Haaren hinab!> Sie folgte schweigend meinem Befehl. Wie sie sich linkisch und umständlich abseilte, merkte ich, daß sie bereits schwanger war.

<Dieser Kerl>, durchfuhr es mich. <Das müßt ihr mir beide büßen !

Ich ließ mich ebenfalls an dem Haarzopf hinunter, griff Rapunzel an der Hand und brachte sie in ein Heim für gefallene Mädchen. Dann kehrte ich schnell um, um dem Kerl seine wohlverdiente Strafe zukommen zu lassen.

Ich kletterte in den Turm, zog Rapunzels langen Zopf herauf und wartete bis zur Dämmerung. Da hörte ich von unten eine Männerstimme:

 

Rapunzel, Rapunzel, laß dein Haar herunter!>

 

Ich ließ den Zopf hinab rollen. Wie schnell der Kerl oben war und mit einem Satz durchs Fenster in die Stube. Trotz Dämmerung erkannte ich: es war einer mit Bart.

<Rapunzel>, hauchte der Kerl und wollte nach mir greifen. Aber ich stieß ihn zurück. <Aha>, rief ich, du willst die Frau Liebste holen, aber der schöne Vogel sitzt nicht mehr im Nest und singt nicht mehr; die Katze hat ihn geholt und wird dir auch noch die Augen auskratzen. Für dich ist Rapunzel verloren, du wirst sie nie wieder erblicken!>

Das war mein Triumph, mein Sieg über den Eindringling, den Wüstling. Verstört und gebrochen starrte er mich an. Aber er sagte kein Wort. Er löste Rapunzels Zopf vom Fensterhaken und ließ ihn in die Tiefe fallen. Dann sprang er hinterher. So ein Wahnsinn! Jedoch stürzte er sich nicht zu Tode Ich konnte noch erkennen, wie er sich davon schleppte.

Als ich noch meinen Kopf über den blöden Kerl schüttelte, ging mir erst meine ausweglose Situation auf. Wie sollte ich von dem hohen Turm hinunter kommen? Ich schrie um Hilfe, aber von dem Kerl war nichts mehr zu sehen und zu hören.

Und Rapunzel? Täglich hatte ich sie im Turm besucht und ihr zu essen und zu trinken gebracht- aber sie kam kein einziges Mal. Ihre Mamili verschmachtete in bitterer Verlassenheit. »

«Das hast du aber auch sagenhaft angestellt, Irene», spöttelt Klementine, «darauf müssen wir einen trinken. » Schon schwebt ein Tablett mit drei Gläschen Portwein heran. Die Schönen prosten sich zu: Auf unsere Fehler von einst, auf unser Glück von jetzt!»

Als sie ausgetrunken haben, sagt Agathe: «Merkwürdig, wir haben es gut gemeint mit unseren Kindern, und doch haben wir diese Fehler gemacht. Wir waren nicht so schlecht, wie die anderen uns machten und die Märchen noch heute erzählen, aber wir waren

nicht weise genug. Du, Klementine, warst zu eifersüchtig auf deine Tochter und zu neidisch auf ihre Schönheit; du, Irene, hattest zu viel Angst um dein Kind; selbst nie erwachsen geworden, sollte auch dein Kind ein Kind bleiben, ewig dein Kind. Du hast sie nicht erwachsen werden lassen wollen, hast sie nicht auf’s Leben vorbereitet, wie es ist und wie es sein muß, und wie es auch schön ist, wenn es gelingt. Ich wollte meine beiden Stiefkinder aufs Leben vorbereiten, wollte sie erwachsen machen, aber auch das ging schief. Zwar hatte ich mein Ziel erreicht, aber es kostete mir mein Leben. » «Erzähl uns deine Geschichte! »

 

 

Die Stiefmutter von Hänsel und Gretel erzählt

 

«Den größten Fehler habe ich wohl ganz am Anfang gemacht. Ich war die Tochter sehr reicher Eltern, und ich hatte Angst, es könnte mich jemand nur des Geldes wegen heiraten. So kam ich auf die fixe Idee, mein künftiger Mann sollte mich als armes Mädchen kennen-

lernen. Wenn er mich liebt und mich zur Frau will, dann liebt er mich echt. Ich zog ärmliche Kleidung an und hielt mich in der Urlaubszeit in Gegenden auf, in denen man meine Eltern nicht kannte Um Leute kennen zu lernen, half ich einmal als Kellnerin in einem Wirtshaus eines weit abgelegenen Dorfes aus. Dort tranken abends die Männer Bier. Die meisten waren vergnügt, spielten Karten. würfelten, erzählten zweideutige Witze, über die sie selbst am lautesten lachten; manche versuchten mich auch mal hier und da anzufassen. Nur einer saß still in einem Winkel und trank sein Bier; den ganzen Abend saß er vor einem Bier; jeden Abend war das so. Von den anderen hörte ich, er sei Holzhauer und seit zwei Jahren

Witwer. Er wohne ziemlich weit draußen am Waldesrand in einem alten Haus und habe zwei Kinder. Seine Frau habe damals das Sagen gehabt, und nun lebe er ziemlich hilflos und ziellos in den Tag hinein. Ihm selbst könne niemand helfen, doch er sei seinen Kindern ein liebevoller Vater.

Der Mann tat mir leid; und weil er mir so tat, blickte ich immer wieder zu ihm hin. Bald merkte ich, daß er mich kaum aus den Augen ließ. Wenn unsere Blicke sich trafen, schlug er die Augen nieder und starrte in sein fast leeres Glas. Das muß wahre Liebe sein, dachte ich, der ist echt in mich verliebt.

Seine Schüchternheit und Bescheidenheit empfand ich wohltuend inmitten des aufdringlichen Lärmens der anderen.

Eines Abends setzte ich mich zu ihm und fragte ihn nach seinem Kummer. Stockend erzählte er mir sein Schicksal, und daß er es nicht wagen könnte, wiederum zu heiraten, weil er doch zwei Kinder habe und bettelarm sei. Nach langem Zögern fügte er, ohne aufzublicken, hinzu - er komme regelmäßig in diese Dorfschänke erst, seit ich hier bediene. Mich zu sehen sei die einzige Freude seines Lebens.

Es durchfuhr mich heiß: das war die Liebe, die ich suchte und die ich brauchte. Ich beschloß, ihn zu heiraten.

Meine Eltern rieten mir zwar nachdrücklich, noch zu warten und den Mann besser kennenzulernen. Mit großer Liebe allein sei es längst noch nicht getan, sagten sie. Aber ich ließ mich nicht belehren. Ich heiratete Wilfried, wurde die Stiefmutter von Hänsel und Gretel, einem Zwillingspärchen, und zog in das alte Haus am Waldrand. Von meinem Besitz an Schmuck, Edelsteinen und Bargeld, den mir meine Eltern vor der Hochzeit überließen, sagte ich erst einmal nichts. Ich wollte den schüchternen Wilfried mir gegenüber nicht noch mehr verunsichern. Ich wollte in seiner Armut und von seiner Liebe leben. '

Bald aber merkte ich die Probleme. Nicht die Armut war es, an der ich litt, sondern mich wurmte, daß Wilfried sie selbst verschuldete. Er ließ sich ständig übers Ohr hauen. Er wagte nicht wie die anderen Holzhauer, mit den Käufern zu handeln. Mit den niedrigsten Preisen ließ er sich abspeisen. Er war überhaupt ohne jede Energie und Eigeninitiative. Er wollte seinen Frieden und sonst nichts. Die beiden Kinder nutzten das reichlich aus. Sie ließen sich von ihm bedienen vorn und hinten. Morgens zog er sie an und brachte sie zur Schule. Mittags holte er sie ab, nachmittags machte er die Schulaufgaben mit ihnen; abends zog er sie wieder aus, wusch sie und legte sie ins Bett. Kein Wunder, daß ihm Zeit zum Holzschlagen fehlte, daß das Geld immer knapper wurde und daß die Kinder total verzogen und unselbständig waren.

Nach ein paar Tagen verlangte ich von ihm, den ganzen Tag in den Wald zu gehen und die Kinder allein aufstehen und. in die Schule gehen zu lassen; bei den Schularbeiten würde ich schon ein wenig hinsehen. <Die armen Kinder>, murmelte er und willigte ein. Die Kinder weinten bitterlich, als sie von der Änderung des Lebensstils erfuhren.

<Nun weißt du, was eine Stiefmutter ist>, hörte ich Hänsel zu Gretel sagen, aber ich ließ mich nicht beirren. Die Kinder waren so total weltfremd und unselbständig. Sie konnten weder ihre Schuhe binden noch ihren Schulranzen packen oder ihr Bett machen, noch den Tisch decken. Aber aufs Wort gehorchten sie ohne Widerrede - wie mein Mann. Alle drei taten widerspruchslos, was ich von ihnen verlangte; zwar oft mit langem Gesicht und trauriger Miene, die Kinder auch manchmal unter Tränen, aber sie taten, was ich sagte. Sagte ich: <Heute gehen wir alle vier in den Wald>, dann gingen wir alle vier in den Wald; sagte ich: <Heute bleiben wir den ganzen Tag im Bett>, dann blieben wir den ganzen Tag im Bett. Ich konnte das Unsinnigste verlangen, sie taten es. Da konnte nur eine Roßkur helfen. Irgendwie mußte ich sie zu Widerspruch und Eigenständigkeit reizen. Mein Plan stand fest. Ich war sicher, er würde zum Ziel führen. Für seine Kinder er würde zum Ziel führen Für seine Kinder würde Wilfried sich einsetzen.

Als wir eines Abends alle in unserem gemeinsamen Bett lagen. sagte ich zu ihm: Unser Brot wird immer knapper, wir haben kaum mehr was zu essen. Wir wollen morgen in aller Frühe die Kinder hinaus in den Wald führen, wo er am dichtesten ist; da machen wir ihnen ein Feuer an und geben jedem noch ein Stückchen Brot, dann gehen wir an unsere Arbeit und lassen sie allein. Die finden den Weg nicht wieder nach Hause, und wir sind sie los. Ich, spürte meinen Puls schlagen, so aufgeregt war ich. Jetzt wird er mir doch widersprechen! Vielleicht schlägt er mich sogar für solche Worte. Das müßte er eigentlich! Er tat es nicht. Immerhin richtete er sich langsam auf, starrte eine Weile ins dunkle Zimmer und sagte endlich: <Nein, Frau, das tue ich nicht; wie sollte ich's übers Herz bringen, meine Kinder im Wald allein zu lassen, die wilden Tiere würden bald kommen und sie zerreißen. >

War ich glücklich - ihr könnt euch gar nicht vorstellen wie glücklich ich war; er hatte nein gesagt! Zum ersten mal hatte er mir widersprochen! Der Widerstand mußte gefestigt werden, er mußte sein Nein wiederholen, darum sagte ich: <Du Narr! Dann müssen wir alle vier verhungern! Du kannst dann nur noch die Bretter für unsere Särge hobeln!>

<Na gut, wenn du meinst, daß es nicht anders geht. Du hast wohl recht. Aber die armen Kinder dauern mich doch. >

Sprach's und ließ sich in die Kissen sinken.

Von diesem Augenblick an war der Trottel für mich gestorben und mit ihm auch der Glaube an die große, wahre Liebe. Ich hatte nur auf die wahre Liebe gewartet und mir den Menschen zuwenig angesehen, der sie zu bringen schien. Pech? Dummheit?

Aber ich hatte ja noch die Kinder. Die mußten doch noch zu retten sein - und ich glaube, in dieser Nacht hatte es bei denen gezündet. Jedenfalls tuschelten die zwei miteinander. Wenig später krabbelte Hänsel mit den Worten <Ich muß mal> aus dem Bett, ging vor die Haustür und kam längere Zeit nicht zurück. Irgend etwas führte er im Schilde. Ich war glücklich. Zum ersten mal war Hänsel kreativ. Was hatte er sich wohl einfallen lassen?

Noch vor Sonnenaufgang weckte ich Wilfried und die Kinder, drückte jedem ein Stück trockenes Brot in die Hand, und wir zogen los in den Wald. Wilfried stapfte vergrämt hinter mir; die beiden Kinder trabten vergnügt nebenher, obwohl sie doch meinen Plan :nit angehört hatten. Hänsel drehte sich immer wieder um, blickte nach dem Haus zurück und ließ ab und zu einen weißen Kieselstein zu Boden fallen. Er markierte den Weg, um in der Dunkelheit nach, Haus zurückzufinden. Was war ich stolz auf den Jungen! Wie freute ich mich über seine geniale Idee So hatte sich mein Plan doch gelohnt: der Junge begann zu lernen, sich selber zu helfen! Wilfried bemerkte von alldem nichts. Als wir mitten im tiefen Wald waren, sagte er: ~Nun sammelt Holz, ihr Kinder, ich will Feuer anmachen, damit ihr nicht friert. > Hänsel und Gretel trugen Reisig zusammen, einen kleinen Berg hoch. Das Reisig wurde angezündet, und als die Flamme recht hoch brannte, sagte ich: Nun legt euch ans Feuer und ruht euch aus; wir gehen in den Wald und hauen Holz. Wenn wir fertig sind, kommen wir wieder und holen euch ab. >

Wie gewohnt folgten sie aufs Wort. Wilfried strich beiden liebevoll übers Haar und ging schweigend mit mir fort. Wir schlugen bis zur Dämmerung Holz, dann gingen wir nach Haus. <Mich dauern die armen Kinder>, murmelte Wilfried hin und wieder. Ich aber lachte vergnügt in mich hinein, denn ich war sicher, daß die beiden zurückfinden werden.

Und wirklich: Im Morgengrauen klopften sie an die Tür. Ich konnte meine Freude kaum verbergen. Das war ein erster großer Erfolg! Aber ich war noch nicht zufrieden. Die Kinder hatten sich 'war zu helfen gewußt, aber sie hatten noch nicht zu widersprechen gewagt. Darum schalt ich sie: <Ihr bösen Kinder, was habt ihr so lange im Wald geschlafen?! Wir haben geglaubt, ihr wolltet gar nicht wiederkommen. > Hätten sie sich nicht rechtfertigen müssen: <Es war anders verabredet. Ihr wolltet uns abholen>? Schade, sie sagten nichts. Ihr Vater schloß sie schluchzend in die Arme.

Trotz des Anfangserfolges blieb alles beim alten. So mußte ich mir etwas Neues einfallen lassen. Diesmal sollte mein Unternehmen effektiver sein, darum bereitete ich es gründlich vor. <Ich verreise ein paar Tage>, sagte ich eines Morgens, seid hübsch brav und recht fromm, bis nach Haus ich wiederkomm. >

~Ja>, sagten die drei, und ich machte mich auf den Weg. Ich ging in den Wald und baute aus geschlagenem Holz notdürftig ein Häuschen zusammen, daneben einen Stall und hob einen Backofen aus. Das brauchte seine Zeit. Als ich fertig war, kaufte ich im Dorf fast die ganze Bäckerei leer: Brot, Lebkuchen, Plätzchen, Zucker, Bonbons. Der Lehrjunge, der mir tragen half, wunderte sich nicht wenig, daß es damit tief in den Wald ging. Dann aber hatte er Spaß, mein Holzhaus mit Süßigkeiten zu verzieren. Eine Üherraschung für meine Kinder>, erklärte ich ihm.

Am nächsten Tag holte ich von meiner Oma alte Klamotten und aus meinem Banksafe in der Stadt meinen Schmuck und meine Edelsteine; die deponierte ich in meinem frischgebackenen Pfefferkuchenhaus. Sollten die Kinder sich durch mein neues Experiment emanzipieren, so sollten sie auch erfahren, daß sie durch ihre Mutter reich geworden sind. Ein neues Leben sollte dann beginnen.

Frohgemut kam ich nach Hause. Wilfried und die Kinder waren allerdings wenig erfreut, daß ich schon wieder zurück war. Abends verschloß ich die Tür und nahm den Schlüssel an mich. Wenn mein Plan gelingen sollte, durften die Kinder diesmal nicht nach Hause zurückfinden.

Als wir im Bett lagen, sagte ich zu meinem Mann: Wilfried, ich habe auf meiner Reise das letzte Geld ausgegeben; wir haben noch einen halben Laib Brot, hernach hat das Lied ein Ende. Die Kinder müssen fort;. wir wollen sie tiefer in den Wald hinein führen, damit sie den Weg nicht wieder herausfinden; es ist sonst keine Rettung für uns. > Wieder richtete er sich auf, murmelte weinerlich vor sich hin, und auf meine eisernen Worte: <Wer A sagt, muß auch B sagen; warst du einmal dafür, so wirst du doch nicht das zweite Mal dagegen sein>, ließ er sich wieder in die Kissen fallen.

Hänsel versuchte nach draußen zu kommen, aber als er den Türschlüssel nicht fand, legte er sich wieder ins Bett. Als wir am nächsten Morgen loszogen, machte er eine Riesendummheit. Weil er keine weißen Steine hatte, krümelte er sich Brot auf den Weg. Ich war sehr enttäuscht. Er hätte sich doch denken müssen, daß die Vögel die Krumen wegpicken, und wie kann man nur seine letzten Nahrungsmittel so unbedacht preisgeben!

Ich führte die drei tief in den Wald hinein. Keiner fragte warum und wieso. Sie gingen mit. Nicht allzu weit von meinem Pfefferkuchenhaus entfernt - es lag nur ein kleiner, dichter Nadelwald dazwischen- hieß ich Wilfried ein Feuer anmachen, und wir verabschiedeten uns von den Kindern wie das erste Mal.

Wir gingen ein Stück des Weges zurück, dann schickte ich meinen Mann nach Hause: <Mit einem Vater, der seine Kinder im Stich läßt, will ich nichts zu tun haben. Hau ab und iß dein letztes Brot allein! Mich wirst du nicht mehr wiedersehen!> - <Ach, Agathe>, sagte er konsterniert- und ging nach Hause.

Ich schlich mich zu meinem Häuschen und stellte mit Schrecken fest, daß sich einige Vögel schon ganz beträchtlich über das Dach hergemacht hatten. Andererseits fand ich das ganz günstig, denn ihr Lärmen und Gezwitscher mußten die Kinder anlocken. Ich schminkte mich und verkleidete mich als alte Hexe - schier so, wie man sich alte Hexen damals vorstellte. Dann wartete ich ab. Zwischendurch ging ich durch den Nadelwald und schaute nach den Kindern. Tatsächlich blieben sie bis zum Abend am Feuer und legten auch immer wieder Holz nach.

Als der Mond hell schien, suchten sie den Heimweg. Natürlich vergeblich. Oft blieben sie ratlos stehen. Dann gingen sie wieder zur Feuerstelle zurück und schlugen eine andere Richtung ein. Gretel weinte, daß es mir durchs Herz ging. Hänsel tröstete sie; er gab nicht auf. Das freute mich. Freilich, am nächsten Tag wurde er auch weich. Beide gingen hilf- und hoffnungslos im Kreis. Erst am dritten Tag mittags, viel später als ich erwartet hatte, fanden sie mein Haus. Ausgehungert griffen sie nach Kuchen und Zuckerwaren. Ich war froh: jetzt konnte ich mein Erziehungsexperiment starten,

jetzt oder nie würde ich sie zu selbständigen, erwachsenen Menschen machen.

Eine Weile ließ ich sie ihren großen Hunger stillen, dann rief ich mit hoher Stimme von innen:

 

<Knusper, knusper, kneischen,

 

wer knuspert an mein Häuschen?>

Würden sie aufhören zu essen? Würden sie erschrecken und weglaufen?

Nein! Die Kinder antworteten:

Der Wind, der Wind, das himmlische Kind>,

 

und aßen weiter, ohne sich irremachen zu lassen. Hänsel, dem das Dach sehr gut schmeckte, riß sich ein großes Stück davon herunter, und Gretel stieß eine ganze runde Fensterscheibe heraus, setzte sich nieder und tat sich wohl damit.

Das sind meine Kinder?!> frohlockte ich. Sie lassen sich nicht hindern! Mein Erziehungsprojekt führt zum Ziel. Was der Hunger doch an Selbstbehauptung weckt!> Mein Jubel sollte schnell ersticken. Ich schlich zittrig und gebrechlich hinaus, aber als Hänsel und Gretel mich erblickten, erschraken sie so gewaltig, daß sie fallen ließen, was sie in den Händen hielten.

Ich beruhigte sie: <Ei, ihr lieben Kinder, wer hat euch hierher gebracht? Kommt nur herein und bleibt bei mir, es geschieht euch kein Leid.> Ich führte die beiden hinein und verwöhnte sie mit Milch und Pfannekuchen, mit Zucker, Äpfeln und Nüssen. Hei, wie sie zulangten, die lieben Kinderchen. Ich hatte jedem ein Bett bereitet, und dann konnten sie erst mal ordentlich ausschlafen. Für meine entscheidende Probe mußten sie fit sein!

Am nächsten Morgen sagte ich mir: jetzt kommt's drauf an! Macht's gut, meine Kinder. Gegen eine alte Frau werdet ihr euch doch zu wehren wissen!

Ich trat zu Hänsel ans Bett, zerrte ihn heraus und schleifte ihn zum Stall. <Eingesperrt wirst du>, sagte ich. Er schrie und jammerte nur, aber riß sich nicht los. Das war meine erste Enttäuschung. Ich stieß ihn in den Stall und schlug die Gittertür zu. Er weinte, rüttelte aber nicht mal an den Planken und Stäben. Das war meine nächste Enttäuschung. In der Hoffnung, Gretel würde es besser machen und sich nicht alles gefallen lassen, weckte ich das Mädchen: <Steh auf, Faulenzerin, trag das Wasser und koch deinem Bruder etwas Gutes; der sitzt draußen im Stall und soll fett werden. Wenn er fett ist, so will ich ihn essen!> Es war wie zu Hause: Gretel weinte und tat, was ich sagte. Das war meine dritte Enttäuschung.

Ich hoffte, daß der Hunger sie in den Widerstand treiben würde, und gab ihr nur Krebsschalen zu essen, während sie Hänsel die leckersten Speisen bereiten mußte. Alles vergebens. Kein einziges Mal versuchte sie, in einem unbeobachteten Moment die Stalltür von außen zu öffnen. Kein einziges Mal aß sie etwas anderes als die Abfälle, die ich ihr hinwarf. Sie tat nur, was ich ihr befahl. Auch Hänsel blieb im Stall ohne jeden produktiven Einfall. Einzig, daß er mir jedes mal ein abgenagtes Hühnerbein durchs Gitter steckte, wenn ich seinen Finger verlangte, um zu fühlen, ob er zugenommen habe und dicker geworden sei. So spielte er auf Zeitgewinn. Ich ging darauf ein und hoffte, er würde die Chance nutzen. Vier Wochen gab ich den beiden, aber es passierte nichts. So zog ich. das letzte Register.

<Heda, Gretel>, rief ich, <sei flink und trag Wasser: Hänsel mag fett oder mager sein, morgen will ich ihn schlachten und kochen!> Sie jammerte wieder los, holte das Wasser und füllte den großen Kessel, in dem Hänsel sieden sollte. Lieber Gott, hilf uns doch>, rief sie, hätten uns nur die wilden Tiere im Wald gefressen, so wären wir doch zusammen gestorben. > - <Spar dir dein Geplärre>, fuhr ich sie an, Beten und Jaulen nützt in solcher Situation gar nichts!> Ich war wütend. Sie hätte mir doch nur mit dem Eimer eins über den Kopf zu hauen oder mir eine Krücke wegzureißen brauchen. Nichts.

Ich gab ihnen noch eine Nacht. Vielleicht würden sie doch noch in höchster Not die Flucht versuchen. Nichts. Am nächsten Morgen lag Gretel noch im Bett, und Hänsel döste im Stall.

<Mach das Feuer unter dem Kessel an>, befahl ich Gretel.

Sie tat es. <Erst wollen wir backen>, sagte ich, <ich habe den Backofen schon eingeheizt und den Teig geknetet. Schau mal nach, ob recht eingeheizt ist, damit wir das Brot hinein schieben können. > Sie ging hin, kam aber sofort wieder zurück und fragte: <Wie soll ich denn feststellen, ob gut genug eingeheizt ist?> Diese dämliche Hilflosigkeit machte mich wütend: Stell dich nicht so dumm an! Mach das Türchen auf und schau hinein!> <Wie geht das Backofentürchen denn auf ? > Da sie kein einziges Mal Hänsels Stalltür geöffnet hatte, konnte ich nicht ahnen, daß es bei Gretel nun endlich geklickt hatte. Und nun gleich so: Ich schlurfte zum Backofen, öffnete das Türchen und wollte ihr eben die Glut zeigen, da spürte ich einen kräftigen Tritt in den Hintern; ich fiel nach vorn, und eh ich mich's versah, wurde ich in den Backofen geschoben und das Türchen hinter mir geschlossen und verriegelt. War das heiß! Ich starb qualvoll, aber glücklich, wie eben eine Mutter stirbt, die gewiß sein kann, ' daß ihre Kinder nun selbständig ihr Leben meistern werden. »

«Ach, Agathe, du Gute», sagt Klementine, aber viele Kinder "' halten für Schikane und Unverständnis, was in Wahrheit heiße Mutterliebe ist. »

«Und wie wenigen Müttern ist so ein Erfolg beschieden wie dir», ergänzt Irene.

« Sag das nicht», erwidert Agathe, «wenn die Märchen die Wahrheit erzählen, so sind jedenfalls unsere Kinder alle glücklich geworden. Schneewittchen hatte ihren Prinzen, Rapunzel hatte ihren Prinzen und Zwillinge dazu; und Hänsel und Gretel hatten im

Hexenhäuschen einen großen Schatz gefunden.

Es dämmert. Laßt uns dem Licht entgegenschweben, ganz leicht und schwerelos glücklich. Heute Nacht treffen wir drei wieder zusammen. »